Antrag im Deutschen Bundestag: „Zur Bewältigung der Corona-Krise Justizvollzugsanstalten entlasten, Gesundheit der Inhaftierten schützen“

GG/BO Soligruppe Leipzig: Die Abgeordneten Niema Movassat, Ulla Jelpke, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, Petra Pau, Martina Renner, Kersten Steinke, Friedrich Straetmanns und die Fraktion DIE LINKE haben den Antrag „Zur Bewältigung der Corona-Krise Justizvollzugsanstalten entlasten, Gesundheit der Inhaftierten schützen“ in den Bundestag eingebracht.

Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse muß damit gerechnet werden, dass dieser in der Sitzung am 23. April 2020 abgelehnt wird. Dennoch befürworten wir die darin enthaltenen Punkte und befürworten, dass diese in den jeweiligen Landesparlamenten Einzug halten. Der Antrag im Volltext: „Drucksache 19/18682 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode

Antrag
der Abgeordneten Niema Movassat, Ulla Jelpke, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, Petra Pau, Martina Renner, Kersten Steinke, Friedrich Straetmanns und der Fraktion DIE LINKE.

Zur Bewältigung der Corona-Krise Justizvollzugsanstalten entlasten, Gesundheit der Inhaftierten schützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Bei SARS-Cov-2 („Corona“) handelt es sich um einen hochansteckenden Virus, dessen weltweite Ausbreitung nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu einer Pandemie geführt hat. Auch Deutschland ist mit 127.584 Infi- zierten und 3.254 Verstorbenen nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI, Stand 15.04.2020, 00:00 Uhr) schwer betroffen. SARS-Cov-2 ist charakterisiert durch eine hohe Infektionsrate, insbesondere durch Tröpfcheninfektion. Hier- durch verbreitet sich SARS-Cov-2 dort sehr einfach und schnell, wo viele Men- schen an einem eng begrenzten Ort zusammentreffen. Ein Ort, an dem Menschen auf eng begrenztem Raum nicht nur zusammentreffen, sondern zusammenleben und teilweise arbeiten sind Justizvollzugs- und Jugendarrestanstalten sowie Orte des Vollzugs der Sicherungsverwahrung und des Maßregelvollzugs nach § 63 und § 64 StGB.

Inhaftierte müssen sich Sanitäranlagen, Aufenthaltsräume und eng begrenzte Freiflächen teilen. Medikamenten- oder Essensausgabe erfolgt teilweise in engen Gängen, in denen ein Mindestabstand nicht einzuhalten ist. Dazu sind Deutsch- lands Justizvollzugsanstalten seit Jahren überbelegt (https://www.dw.com/de/gef%C3%A4ngnisse-in-deutschland-politik-hinter-git- tern/a-47422486). Unter diesen Bedingungen Maßnahmen zu ergreifen, die die Ausbreitung des Virus eindämmen sollen, wie zum Beispiel ausreichend Abstand zu anderen Menschen zu halten, ist schon aus baulichen Gründen nicht überall möglich. Die einzig wirksame Maßnahme, um die Ausbreitung von SARS-Cov- 2 in einer Justizvollzugsanstalt zu verhindern, wäre das Einschließen aller Inhaf- tierten in ihren Zellen. Dies käme aber einer grundrechtlich hochproblematischen Isolationshaft gleich. Wegen des fehlenden Kontakts zu anderen Menschen wird die Isolationshaft teilweise als weiße Folter bezeichnet, in jedem Fall aber darf sie nur in absoluten Ausnahmefällen, etwa bei Regelverstößen von Inhaftierten im Gefängnis, angewendet werden. Inhaftierte um den Schutz ihrer selbst willen iso- lieren zu müssen, weil der Staat versagt, Justizvollzugsanstalten so auszustatten, dass auch in Zeiten von Pandemien der Schutz der Gesundheit eines jeden einzel- nen gewährleistet ist, ist unserem Rechtsstaat nicht würdig. Daher müssen wäh- rend der Corona-Krise die Justizvollzugs- und Jugendarrestanstalten entlastet und die Gesundheit der übrigen Inhaftierten geschützt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, mit den für den Strafvollzug zuständigen Bundesländern in Kontakt zu treten und folgende Sofortmaßnahmen vorzuschlagen:

  1. Die Vollstreckung aller Ersatzfreiheitsstrafen zu unterbrechen und aufzu- schieben, bis die Ausbreitung von SARS-Cov-2 gestoppt ist.
  2. Die Vollstreckung rechtskräftig verhängter Freiheitsstrafen von weniger als drei Jahren aufzuschieben, bis die Ausbreitung von SARS-Cov-2 gestoppt ist. Es sei denn die Freiheitsstrafe wurde wegen eines Sexualdeliktes ver- hängt, die verurteilte Person stellt eine Gefahr für andere Menschen dar oder andere zwingende Gründe sprechen für einen unverzüglichen Haftantritt.
  3. Alle Inhaftierten zu entlassen, bei denen die Voraussetzungen der Ausset- zung des Strafrestes nach § 57 Abs. 1 oder § 57 Abs. 2 Strafgesetzbuch dem Grunde nach vorliegen, was insbesondere die Einwilligung des Häftlings iSd. § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 (iVm. § 57 Abs. 2 Hs. 2) Strafgesetzbuch bein- haltet.
  4. Den Vollzug von Jugendarrest auszusetzen und alle in Jugendarrest befind- lichen Personen zu entlassen.
  5. Die Inhaftiertenvertretungen zur gebotenen Berücksichtigung der Belange der Inhaftierten bei Beschluss und Umsetzung aller Maßnahmen zum Schutz vor SARS-CoV-2 einzubeziehen.
  6. Vergütungen weiter zu zahlen, wenn zu der Eindämmung der Pandemie die Schließung von Arbeitsbetrieben/Werkstätten notwendig ist bzw. Arbeits- zeiten verkürzt werden und die Inhaftierte dadurch in der Ausübung ihrer Arbeit bzw. Ausbildung gehindert werden.
  7. Sicherzustellen, dass sich die Inhaftierten – auch unter dem Eindruck sons- tiger (massiver) Beschränkungen – weiterhin in gewohntem Umfang mit Nahrungs- und Genussmitteln versorgen und weitere Bedarfe abdecken kön- nen.
  8. Hygienemaßnahmen und solche zum Schutz vor Ansteckungen auch in Jus- tizvollzugsanstalten umzusetzen, insbesondere bei der Essens- und Medika- mentenausgabe das Einhalten von Mindestabständen einzuhalten, aufgrund von Alter und Vorerkrankung zur besonderen Risikogruppe zählende Inhaf- tierte auf deren Wunsch hin auch in den Zellen mit Essen oder Medikamen- ten zu versorgen, um ihnen das gemeinschaftliche Anstehen zu ersparen, so- wie Mund-Nasen-Schutz und Desinfektionsmittel für Inhaftierte und JVA- Bedienstete zur Verfügung zu stellen.
  9. Bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Schutzmaßnahmen und Schutz- plänen Inhaftiertenvertretungen bzw. Inhaftiertensprecherinnen einzubezie- hen, um diese den Inhaftierten gegenüber verständlich machen zu können und so zur Akzeptanz für die im Sinne des Infektionsschutzes notwendige Einschränkungen beizutragen.
  10. Sicherzustellen, dass Informationen über SARS-CoV-2 und die dagegen zu treffenden Maßnahmen in verschiedenen Sprachen für die Insassen der Jus- tizvollzugs- und Jugendarrestanstalten zur Verfügung gestellt werden.
  11. Eine Kontrolle der Einhaltung von Hygiene- und Gesundheitsstandards durch Dritte von außerhalb der Justizvollzugsanstalten, wie zum Beispiel lo- kale Gesundheitsämter, zu ermöglichen.
  12. Die fatalen Auswirkungen von Besuchsverboten und -beschränkungen durch geeignete Maßnahmen, die die Erreichbarkeit von Inhaftierten sicherstellen, abzufedern.

Berlin, den 21. April 2020

Amira Mohamed Ali, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Vorabfassung – wird durch die lektorierte Fassung ersetzt.“

Leipzig, 22. April 2020

 

Die von den einzelnen AutorInnen veröffentlichten Beiträge geben nicht die Meinung der gesamten GG/BO und ihrer Soligruppen wieder. Die GG/BO und ihre Soligruppen machen sich die Ansichten der AutorInnen nur insoweit zu eigen oder teilen diese, als dies ausdrücklich bei dem jeweiligen Text kenntlich gemacht ist.

3 Kommentare

  1. der antrag ist sicherlich zu begrüssen.
    was mich ein etwas stört sind die pauschalbegriffe. sexualstraftäter und gewalttäter. ich gelte als gewalttäter, weil ich ne bank mit ner ungeladenen schreckschußpistole überfallen hab. ich hab noch nie in meinem leben einen menschen geschlagen. es ist noch nicht so lange her, da galten schwule männer als sexualstraftäter, wenn sie das gleiche machten, wie heterosexuelle männer. ich will einfach nur dafür plädieren, dass linke genauer hingucken und nicht einfach die stereotypen der herrschenden übernehmen.
    einer, den die justiz radikalisiert hat

    1. die kritik ist me berechtigt. der antrag als ganzes wäre auch noch ausbaufähig. langzeitausgang für menschen im ov, prüfung der haftentlassung von menschen aus risikogruppen, kostenlose (haftraum)telefonie oder handys,…

      die begriffe sind zu pauschal. andererseits gibt es unter gefangenen einen kleinen teil von menschen vor denen „die gesellschaft“, zumindest temporär, geschützt werden sollte. hast du zu den begriffen einen vorschlag oder meinst, das einfach ganz raus lassen und den richterinnen die einzelfälle überlassen? ggf liest ja hier eine mdl mit und übernimmt das auf landesebene.

      max soligruppe leipzig

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.