Als er begreift, dass in wenigen Sekunden alles vorbei sein wird, sitzt Oliver Rast auf der Rückbank eines gelben Renault Clio, der mit 120 km/h über die Bundesstraße 1 in Richtung Berlin fährt. Es ist kurz nach zwei Uhr nachts, 31. Juli 2007, die Felder links und rechts der Straße verschwimmen in der Dunkelheit. Im Rückspiegel sieht Rast, wie die Polizisten sich nähern, drei Autos, die Lichtkegel der Scheinwerfer blenden ihn. Wenig später bremsen die Polizisten Rast und seine zwei Freunde aus. Der Renault rutscht über den Asphalt, bleibt stehen, und für einen winzigen Augenblick ist alles still. Vier Autos bei Nacht auf einer verlassenen Bundesstraße in Brandenburg.
Oliver Rast sagt, in diesem Moment habe er eingesehen, dass ihn der Staat, gegen den er jahrelang gekämpft hatte, besiegt habe.
Rast sieht noch heute vor sich, wie die Beamten des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) brüllend aus ihren Autos springen, wie sie die Scheiben des Renault einschlagen, wie Glas splittert und er in den Lauf einer Glock 17, neun Millimeter schaut, ehe er bäuchlings auf einem Acker liegt, das Gesicht im Sand, die Hände auf dem Rücken in Handschellen. Dann richten sie ihn auf. Jemand zieht Rast einen Sack aus Stoff über den Kopf. Alles ist schwarz.
Endstation, denkt Rast.
Rast versuchte, Lastwagen der Bundeswehr zu „flambieren“ – und wurde observiert
Oliver Rast war Mitglied der „mg“, der Militanten Gruppen, einer linksradikalen Untergrundorganisation, die zwischen 2001 und 2009 rund 30 Anschläge verübt haben soll, meist Brandanschläge, meist auf Ziele, die für sie das verhasste System verkörperten, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung etwa oder ein Polizeipräsidium in Berlin. Menschen wurden nie verletzt, das ist Rast wichtig.
Schon monatelang hatten die Polizisten ihn observiert, als er an diesem Abend im Juli versucht hatte, Bundeswehr-Lkw auf einem Gelände des Autobauers MAN in Brandenburg an der Havel mit Brandsätzen anzuzünden, zu „flambieren“, wie er sagt. Die MEK-Beamten konnten den Zündmechanismus entschärfen. Rast wurde nach Paragraf 129 wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt.
Doch diese Nacht in Brandenburg war der Beginn einer Verwandlung.
Neun Jahre später sitzt Rast an einem Abend im Dezember bei seinem Stammitaliener in Berlin-Mitte, bei sardischem Rotwein und Pasta Ossobuco. Am Mittag hat er den neuen Justizsenator Berlins getroffen. Am Nachmittag mit mehreren Journalisten telefoniert, vom Tagesspiegel und dem stern. Vor Kurzem wurde er mit dem Fritz-Bauer-Preis ausgezeichnet, den vor ihm schon Edward Snowden und Günter Grass gewonnen haben.
Rast selbst würde sich immer noch als ein Linksradikaler bezeichnen, er redet von Kadern, Genossen, unter anderem von der „Genossin Ulrike Meinhof“, aber er ist kein Terrorist mehr, er zündet nichts mehr an, er will nichts mehr zerstören. Er hat etwas aufgebaut. Während der anderthalb Jahre, die er in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel saß, gründete er Deutschlands erste Gefangenengewerkschaft, die GG/BO, das BO steht für „bundesweite Organisation“.
Viele Gefangene in Deutschland arbeiten für große Firmen, was kaum jemand weiß, weil die Firmen kein Interesse daran haben, dass das bekannt wird. Eine Wahl haben die meisten Inhaftierten nicht. Für sie gibt es in vielen Bundesländern eine Arbeitspflicht, jeder muss acht Stunden am Tag arbeiten und bekommt dafür zwischen 1,20 und 1,50 die Stunde. Rasts Gewerkschaft, die mittlerweile auf 1.000 Mitglieder angewachsen ist, setzt sich auf politischer Ebene dafür ein, dass Inhaftierte den gesetzlichen Mindestlohn bekommen und Rentenbeiträge abführen können, um sich vor Altersarmut zu schützen.
Rast weiß, dass sich das Mitleid für Mörder und Kinderschänder, die auch Mitglieder seiner Gewerkschaft sind, in Grenzen hält. Aber es geht ihm nicht um Mitleid, es geht ihm um Gerechtigkeit. „Die Gefangenen werden ausgebeutet. Das Gefängnis ist ein Ort, an dem vorwilhelminische Arbeitsbedingungen gelten und die Bismarcksche Sozialgesetzgebung außer Kraft gesetzt ist. Warum bekommen sie nicht einen gerechten Lohn für ihre Arbeit?“, fragt Rast.
Er ist ein gedrungener Mann, 44 Jahre alt, der viel von Marcuse, Lenin und Trotzki gelesen hat und weiß, dass er zu viele Fremdwörter benutzt, um immer sofort verstanden zu werden. Er sieht anders aus, als man es von einem Intellektuellen erwarten würde: Braune Turnschuhe von New Balance, schwarze adidas-Trainingsjacke, breite Schultern, breite Brust, die Haare sehr kurz und im Blick die Gewissheit, dass seine Faust ihn mindestens so oft gerettet hat wie seine Rhetorik.
Im Knast lernte er, wie wichtig das Grundgesetz ist
Rast, 1972 geboren, wuchs im Märkischen Viertel auf, Trabantensiedlung in Reinickendorf, siebter Stock, der Vater Kraftfahrer bei den Wasserwerken, die Mutter kaufmännische Angestellte bei einer Fahrschule und SPD-Mitglied, Proletarierhaushalt. Mit 15 trat Rast den Jusos bei. Mit 16 sah er den Film Die verlorene Ehre der Katharina Blum und begann heimlich, die RAF zu bewundern. Mit 18 engagierte er sich bei der Grünen Jugend, marschierte mit Renate Künast auf Demos, lernte Leute aus der autonomen Szene kennen, warf Steine, errichtete Straßenbarrikaden. Er studierte Politikwissenschaften, engagierte sich im Asta, brach sein Studium ab, lernte Buchbinder und arbeitet bis heute im Roten Antiquariat, das spezialisiert ist auf die Geschichte der Arbeiterbewegung.
„Ich bewege etwas, ich verändere etwas. Zum ersten Mal in meinem Leben“
2006, Oliver Rast war 34, soll er laut Polizei der mg beigetreten sein. Rast sagt, er habe das Gefühl gehabt, er müsse was tun, damit sich was verändere.
Doch es änderte sich nichts.
Nur er änderte sich. Im Gefängnis. Aus einem linksradikalen Dogmatiker, der das System bekämpfte, um es zu revolutionieren, wie er selbst sagt, wurde ein Mann, der sich auf Gesetze beruft, um das System von innen heraus zu reformieren.
Oliver Rast, noch immer beim Italiener in Mitte, mittlerweile schon beim zweiten Glas Rotwein, sagt, im Knast habe er zwei Dinge gelernt. Erstens: Menschen in Bruchteilen von Sekunden zu lesen. Zweitens: wie wichtig das Grundgesetz ist.
Im Jahr 2011 – nach vier Monaten Untersuchungshaft in der JVA Moabit, einem Jahr Prozess, einem Jahr Revision, 16 Monaten im offenen Vollzug in der JVA Hakenfelde – kommt er in den geschlossenen Vollzug in die JVA Tegel. Rasts Zelle liegt im Haus 5, Abteilung e, sieben Quadratmeter groß, 2,20 Meter hoch, ein Bett, ein Tisch, eine Toilette. Am fünften Tag kommt ein Albaner, Mitte 50, zu ihm, er habe gehört, Rast sei politischer Gefangener. Die beiden reden lange miteinander. Wie sich herausstellt, ist der Mann Chef der Albaner, die das Haus 5 kontrollieren, er mag Rast, weil der Enver Hoxha kennt, der bis 1985 Diktator der Sozialistischen Volksrepublik Albaniens war. Danach laufen sie gemeinsam zwei-, dreimal den Gang vor Rasts Zelle auf und ab. Ein Signal. Der Terrorist gehört zu uns, Rast ist jetzt sicher.
Nach einer Woche hat er sich an den Tagestakt gewöhnt: um 6 Uhr wecken. Um 6 Uhr 50 schrillt eine Sirene, ausrücken zur Arbeit, im Blaumann, die Büchse mit den Butterbroten unterm Arm. Dann Arbeit, acht Stunden, bis 15 Uhr. Dann wieder Ausrücken, Essen, eine Stunde Hofgang, um 21.30 Uhr Einschluss. Jeder allein auf seiner Zelle.
Rast arbeitet zusammen mit etwa 30 anderen Gefangenen als Buchbinder, Abteilung Kartonage, er produziert Stehordner aus Pappe. Rasts Aufgabe ist es, Überziehfolien, manchmal einfarbig, manchmal mit Blumenmuster, auf die Stehordner zu kleben. Diese werden dann an Gerichte, Bezirksämter, das Berliner Abgeordnetenhaus oder die Berliner Polizei verkauft, 18 Euro kosten sie im Handel, die Berliner Landesbehörden bekommen sie fast umsonst. 30 bis 70 Stück produzieren sie am Tag, Rast arbeitet sechs Tage die Woche, bekommt dafür wie jeder andere Gefangene 11,85 Euro am Tag. Im Schnitt 200 Euro verdient er im Monat. Das meiste Geld, bis zu 120 Euro, gibt er für Lebensmittel aus, Nudeln, Thunfisch aus der Dose, Hanutas.
Rast lernt Mehmet Aykol kennen, den jeder in Tegel kennt, weil er Inhaftierten in rechtlichen Angelegenheiten hilft. Aykol ist ein Mann Anfang 50, seit 22 Jahren im Knast, der wegen Anstiftung zum Mord zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und Jura an der Fernuni studiert hat. Rast und Aykol reden viel über das Leben im Knast. Aykol ist überrascht, wie viel Rast schon vom Knast verstanden hat: Er weiß, dass man den Menschen in die Augen schauen muss, demonstrativ, aber nicht provozierend. Er weiß, dass es im Knast Prostitution gibt, dass Gefangene andere Gefangene überfallen, dass Kinderschänder mit kochendem Wasser übergossen werden. Er weiß, dass im Gefängnis manche Grundrechte außer Kraft gesetzt sind wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder das Postgeheimnis, aber nicht der Artikel 9 des Grundgesetzes für Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit.
Im Mai 2014 beschließen Mehmet Aykol und Oliver Rast, eine Gewerkschaft zu gründen. Sie nennen sie GG/BO, schreiben eine Pressemitteilung. Das Neue Deutschland und die taz berichten, Gefangene aus ganz Deutschland treten der Gewerkschaft bei, auch Männer, die vorher nicht einmal wussten, was eine Gewerkschaft ist.
Seit dem 10. September 2014 ist Oliver Rast draußen. Er war seitdem nicht mehr in Tegel. Aber die Gewerkschaft hat er von draußen weitergeführt.
Ein paar seiner alten Freunde aus der autonomen Szene, sagt Rast, sähen die Sache mit der Gewerkschaft skeptisch, aber Rast ist das egal. Er sagt: „Ich bewege etwas, ich verändere etwas. Zum ersten Mal in meinem Leben.“ Oliver Rast sagt auch: „Die Gewerkschaft ist die Quittung, die ich dem bundesrepublikanischen Staatsapparat ausgestellt habe. Ich habe ihm wahrscheinlich nie mehr Schwierigkeiten bereitet als jetzt.“
Ist das Rache?
„Eine sehr subtile“, sagt Rast.
Quelle: http://www.zeit.de/2017/04/oliver-rast-linksradikal-gefaegnis-gewerkschaft-jva-tegel/komplettansicht
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