Aus der Gefängniszelle in die Altersarmut
Rasen mähen, Grills bauen, für die Gefangenenzeitung schreiben: Wer sitzt, muss arbeiten, hat aber keinen Rentenanspruch. Gefangene sollen resozialisiert werden. Aber ist das möglich, wenn ihnen Armut droht? Ein Besuch in der JVA Oldenburg.
OLDENBURG/HANNOVERHerr V. geht jeden Tag zur Arbeit. Er hat es nicht weit, es sind nur ein paar Treppen und zwei, drei Flure, aber das dauert: Herr V. muss durch die erste Sicherheitstür geschleust werden und durch die zweite, dritte und vierte, er wird durchsucht, er muss den Metallsucher passieren, er muss sich entkleiden und wieder anziehen.
Die Sonne scheint; heute wird Herr V. den Rasen mähen.
Da ist diese Mauer, 6,50 Meter hoch, die Mauer soll die Welt da draußen vor denen hier drinnen beschützen. Aber irgendwann, nach 5 oder 10 Jahren, kam es Herrn V. so vor, als beschütze die Mauer ihn vor der Welt da draußen.
Heiko V., 45 Jahre alt, sagt: Dieser Verkehr! Dieser Lärm! Diese Gerüche! Einmal durfte er (in Begleitung natürlich) in einen Blumenladen gehen, zum ersten Mal seit zehn Jahren. „Ich bin fast ohnmächtig geworden“, sagt er. Facebook? WhatsApp? Smartphones? V. kennt das nicht, sein letztes Handy war ein Nokia 6110.
Je länger V. hier drinnen ist, desto größer wird seine Angst vor der Welt da draußen. Wie werde ich leben, wenn ich rauskomme? Und wovon werde ich leben, wenn ich alt bin?
Aus dem Leben gerissen
Man führt ein Leben, arbeitet zuerst auf der Werft und dann für die Versicherung. Man least ein Auto. Kauft eine Wohnung. Bis etwas passiert, „eine Beziehungstat“, sagt Heiko V. knapp. Ein Mensch stirbt. Ein anderer Mensch wird wegen Mordes verurteilt, lebenslange Freiheitsstrafe.
Auf ein Käffchen mit Strafgefangenen, Multimedia-Reportage
Seit zehn Jahren sitzt V. nun im Gefängnis. „Lebenslänglich bedeutet lebenslänglich“, sagt er. Trotzdem hofft er, dass er in fünf Jahren auf die andere Seite der Mauer wechseln darf: Nach 15 Jahren kann er zum ersten Mal beantragen, dass der Rest seiner Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Die Chancen für V. stehen gut: Die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Tat gilt als gering, er arbeitet mit Therapeuten sein Verbrechen auf, er benimmt sich tadellos. Mittlerweile befindet er sich in der sogenannten Lockerung.
Und deshalb darf er auch vor der Mauer den Rasen mähen. Er klemmt den Gehörschutz auf, schaltet die gelbe Warnleuchte an, los geht’s.
Im Strafvollzugsgesetz steht: „Der Gefangene ist verpflichtet, eine ihm zugewiesene Arbeit auszuüben.“
Heiko V. arbeitet in der Hofkolonne. Andere Gefangene verpacken Müllbeutel, bauen Edelstahlgrills oder stecken Kabelbäume für Windkraftanlagen zusammen. Sie alle arbeiten jeden Tag, zumeist von 8 Uhr bis 16 Uhr.
Da ist Torsten T., 47 Jahre alt, Kfz-Meister, wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, er sitzt seit fünf Jahren in Oldenburg im Gefängnis. Er arbeitet in der sogenannten Kammer; heute ist Wäschewechsel, er muss Anstaltskleidung waschen und trocknen.
Da ist Lars T., 42 Jahre alt, Krankenpfleger, wegen Betrugs zu sechs Jahren Haft verurteilt, er sitzt seit vier Jahren. Er arbeitet in der Redaktion von „Trotzdem“, der Gefangenenzeitung; in Kürze geht die neue Ausgabe in Druck.
Im Strafvollzugsgesetz steht: „Die Arbeit der Gefangenen wird anerkannt durch Arbeitsentgelt.“
Die Berechnung ist kompliziert; Begriffe wie Bemessungsgrundlage und Bezugsgröße spielen dabei ebenso eine Rolle wie ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. In Zahlen kommt dabei heraus: Die Gefangenen verdienen in der mittleren Lohnstufe 1,54 Euro pro Stunde. „Alles in allem komme ich im Monat durchschnittlich auf 330 Euro“, rechnet Heiko V. vor.
Das Geld wird gesiebtelt. Drei Siebtel gehen aufs sogenannte Hausgeldkonto; die Gefangenen kaufen davon Tabak, Kaffee, Milch oder auch mal neue Schuhe. Vier Siebtel kommen aufs Eigengeldkonto. Das Eigengeld ist pfändbar.
Das geleaste Auto. Die gekaufte Wohnung. Unterhaltspflichten. Opfer-Entschädigung. „Die meisten Gefangenen werden ja direkt aus ihrem Leben gerissen“, sagt Heiko V. Kurz: Die meisten Gefangenen verfügen nicht über ihr Eigengeld; es gelingt ihnen nicht, etwas anzusparen (außer das vorgeschriebene Überbrückungsgeld für die Zeit nach der Haft).
In der Haft soll der Gefangene „fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“, so steht es unter „Aufgaben des Vollzugs“ im Strafvollzugsgesetz, Paragraf 2. Der Fachbegriff dafür lautet: Resozialisierung. In der JVA Oldenburg sagen sie immer: „Und morgen sind sie wieder unsere Nachbarn.“
Die Arbeitspflicht im Gefängnis soll helfen bei der Resozialisierung. Dafür geeignet sei Arbeit aber nur, wenn sie „dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen“ führe. So hat es das Bundesverfassungsgericht 1998 definiert.
Strafe nach der Strafe?
Als Heiko V., Torsten T. und Lars T. ins Gefängnis kamen, mussten sie viele Merkzettel unterschreiben. Auf einem stand: Die Vollzugsbehörde entrichtet für die Gefangenen keine Beiträge zur Rentenversicherung; für eine Aufrechterhaltung der Versicherung sind die Gefangenen selbst verantwortlich.
Da ist sie wieder, die Angst des Herrn V.: Wenn er nach 15 Jahren entlassen werden sollte, in der Tasche 1500 Euro Überbrückungsgeld, wäre er 50. Wird er einen Job finden mit seiner Vorgeschichte? Wovon wird er im Alter leben?
V. kennt die Antwort auf die letzte Frage: Er wird von Sozialhilfe leben – Grundsicherung heißt das für Rentner, die nicht lange genug in die Rentenkasse eingezahlt haben.
Lars T., der „Trotzdem“-Redakteur, sagt: „Es folgt die Strafe nach der Strafe.“
Nun könnte man sagen: Naja, die Straftäter sind doch selber schuld. Auch andere Menschen müssen von der Grundsicherung leben – Menschen, die sich nichts zu Schulden kommen ließen.
Allerdings steht auch dieser Satz im Strafvollzugsgesetz, Paragraf 3: „Schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs ist entgegenzuwirken.“
In Göttingen, Abteilung für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Georg-August, sagt Professor Dr. Dr. Jörg-Martin Jehle, 65 Jahre alt: „Wenn man jemanden 15 Jahre lang rausreißt, kann man die schädlichen Folgen nicht völlig kompensieren.“ 15 Jahre hinter Mauern – das hat Folgen für soziale Beziehungen. 15 Jahre Wissensstand Nokia 6110 – das hat Folgen für den Arbeitsmarkt. Aber für die Rente?
Als vor 40 Jahren das Strafvollzugsgesetz verabschiedet wurde, vertagte der Bundestag das Thema Rente; ein eigenes Bundesgesetz sollte folgen. Es folgte nie. „Finanzielle Vorbehalte der Länder“ stünden dem bis heute entgegen, heißt es im Bundesarbeitsministerium, wo man Rentenbeiträge für Strafgefangene ansonsten „grundsätzlich für sinnvoll“ hielte.
7954 Menschen sind 2013 aus niedersächsischen Gefängnissen entlassen worden. Sie sind jetzt wieder unsere Nachbarn – als Sozialhilfeempfänger? Wie groß ist da zum Beispiel die Rückfallgefahr?
Gezahlt wird so oder so
„Klar ist ein auskömmliches Einkommen Rückfallprävention“, sagt Professor Jehle. Andererseits hat er in einer Studie herausgefunden, dass gerade ältere und langstrafige Entlassene nur sehr selten wieder straffällig werden.
Trotzdem empfiehlt Jehle das „Österreichische Modell“ für Langzeitgefangene: Die Gefangenen bekommen für ihre Arbeit einen höheren Lohn, davon gehen Sozialversicherungsbeiträge ab, Steuern, Haftkostenbeitrag, Schuldentilgung. Übrig bleibt ein Nettobetrag, der ungefähr bei 1,54 Euro liegen dürfte.
Die Kosten? Dazu gibt es „keine Berechnungen“, heißt es beim Bundesarbeitsministerium. Ebenso wenig zu „erwirtschafteten Überschüssen“ durch wertschöpfende oder kostensenkende Arbeit im Gefängnis. Beim Justizministerium in Hannover heißt es nur: Die Gefangenen leisten „ihren Beitrag zur Finanzierung der staatlichen Aufwendungen für den Justizvollzug“.
Heiko V. sagt: „Ich habe die Straftat begangen, ich will die Konsequenzen tragen. Aber es wäre leichter für mich, wenn ich wüsste: Es geht für mich nach der Haft weiter.“
Torsten T. sagt: „Es geht ja auch um Wiedergutmachung für die Opfer. Aber man hat einfach zu wenig Geld, um da etwas zu bezahlen.“
Lars T. sagt: „Rentenbeitrag oder Sozialhilfe – der Steuerzahler zahlt auf jeden Fall.“