Um 19.45 Uhr macht eine junge Mitarbeiterin der Justizvollzugsanstalt Leipzig einen Kontrollgang durch ihren Trakt. An der Tür der Zelle mit der Nummer 144 zuckt sie zusammen: Der syrische Häftling hat sich mit seinem T-Shirt an einem Gitter aufgehängt. Dschaber al-Bakr ist tot. Der Selbstmord des 22-Jährigen, der im dringenden Verdacht steht, einen Sprengstoffanschlag auf einen Berliner Flughafen geplant zu haben, ist ein Fiasko für die Ermittler: Die wichtigste Quelle im jüngsten deutschen Terrorfall ist verstummt. Wie konnte es dazu kommen?
Gab es Hinweise auf einen geplanten Selbstmord?
Seit Montagabend war der terrorverdächtige Syrer in der JVA Leipzig untergebracht. Bei der Ankunft im Gefängnis ist bereits bekannt, dass er die Nahrung verweigert und auch nichts trinken will. Der Haftrichter hält ihn für einen Selbstmordkandidaten, in der JVA aber sehen sie keine akute Gefährdung. Dschaber al-Bakr kommt in eine reguläre U-Haftzelle. Für die Unterbringung in einem besonders selbstmordsicheren Haftraum, wo es in der Regel weder innen liegende Gitter noch bewegliche Möbel gibt, hätten die Voraussetzungen gefehlt, sagt JVA-Leiter Rolf Jacob am Donnerstag bei einer Pressekonferenz mit Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) in Dresden.
In den ersten Stunden wird der Syrer alle 15 Minuten von JVA-Mitarbeitern überwacht – eine Videoüberwachung ist in Sachsen bei U-Häftlingen verboten. Am nächsten Tag macht sich die Psychologin der JVA ein Bild von al-Bakr, jetzt ist zum ersten Mal auch ein Dolmetscher dabei. Die 52-jährige Psychologin gilt als erfahrene Strafvollzugsexpertin, mit Terrorverdächtigen hatte sie allerdings noch nicht zu tun.
Wie hat sich Dschaber al-Bakr umgebracht?
Die Justiz-Psychologin glaubt: Dschaber al-Bakr ist nicht akut suizidgefährdet. Es reiche aus, den Häftling statt alle 15 Minuten nur noch alle 30 Minuten zu kontrollieren. JVA-Leiter Jacob sagt später: „Wir verlassen uns auf das Votum der Experten.“ Doch al-Bakr, so scheint es, sucht in seiner Zelle nach einer Möglichkeit, sich umzubringen: Er reißt die Lampe aus der Halterung und macht sich an einer Steckdose zu schaffen. In der JVA-Leitung deuten sie das nicht als mögliche Vorbereitung zu einem Selbstmord, sondern buchen es unter Vandalismus ab. Als die Elektrik repariert ist, kommt der Syrer wieder in seine Zelle. Um 19.30 Uhr wird er an diesem Mittwoch zum letzten Mal kontrolliert, die nächste Kontrolle wäre um 20 Uhr gefolgt. Doch eine junge Auszubildende macht bereits um 19.45 Uhr einen Rundgang – und findet den Erhängten. Al-Bakr hat die Viertelstunde offenbar genutzt und sich aus seinem Shirt einen Strick geknotet. Hinweise auf mögliches Fremdverschulden werden noch geprüft. Und nun? Wie ist al-Bakr zum Terroristen geworden? Ist er Teil einer Gruppe, die weitere Anschläge vorbereitet? Fragen, die ihm keiner mehr stellen kann.
Hätte die Leipziger JVA al-Bakr besser überwachen müssen?
Im Nachhinein ist die Antwort eindeutig: ja. Allerdings: Es ist in solchen Fällen offenbar üblich, der Expertise der Psychologen vor Ort zu folgen – auch in Leipzig. So kam es zu der erstaunlichen Einschätzung, dass ein potenzieller Selbstmordattentäter als nicht akut selbstmordgefährdet galt. „Wenn Suizidgefahr vorliegt, dann ist das Wort des Psychologen entscheidend“, sagt Katharina Bennefeld-Kersten, Leiterin der Bundesarbeitsgruppe Suizidprävention im Justizvollzug, dieser Redaktion. Aber: Absolute Sicherheit gibt es nicht. Selbst die Unterbringung in einem suizidsicheren Raum sei keine Garantie: „Wenn jemand es darauf anlegt, dann schafft er es auch.“
In den Jahren 2000 bis 2015 gab es 1189 Selbstmorde in deutschen Gefängnissen. In 22 Fällen waren es Frauen. Die Selbstmordrate ging in dieser Zeit zurück: Während im Jahr 2000 noch 117 Selbstmorde gab, waren es 2015 nur noch 67 Fälle. Das höchste Risiko besteht in der Untersuchungshaft in den ersten 14 Tagen. Die Bundesländer, sagt Bennefeld-Kersten, hätten in den vergangenen Jahren viel in Suizid-Prävention im Justizvollzug investiert. Es klinge ironisch, aber: Sachsen sei hier sogar Vorreiter.
Hat die sächsische Justiz Fehler gemacht?
„Das hätte nicht passieren dürfen“, sagt Sachsens Justizminister Gemkow am anderen Morgen. Man habe aber alles getan, um den Suizid zu verhindern. Einen Rücktritt, wie die Linkspartei bereits fordert, lehnt er ab. Vize-Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) macht dagegen eine falsche Einschätzung in der Justizvollzugsanstalt für die Tat mitverantwortlich. Es könne nicht sein, dass ein unter Terrorverdacht stehender Mann wie ein „Kleinkrimineller“ behandelt werde. Die Suizidgefahr habe eine Rolle gespielt, sei in der „hohen Brisanz“ aber vielleicht nicht klar gewesen, räumt JVA-Leiter Jacob am Donnerstag ein.
Kritik an den Zuständen in Sachsens Gefängnissen übt auch die Gefangenengewerkschaft GGBO. Mit der besonderen Vorgeschichte sei dieser Fall als „grotesk“ zu bezeichnen. Tommy (Name von der Redaktion geändert) ist Mitglied der bundesweit organisierten GGBO. Er selbst saß zwei Jahre in Leipzig ein, kennt die Verhältnisse dort, auch die Personalsituation bei den Vollzugsbeamten. Heute erreichen wir ihn in Berlin, den Kontakt zu ihm hat Oliver Rast, Bundessprecher der Gewerkschaft, hergestellt. Seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. „Es hätte auch in Leipzig die Möglichkeit gegeben, den unter Terrorverdacht stehenden Syrer einer 24-Stunden-Überwachung zu unterziehen“, sagt er. Nur eine Zelle neben der Zelle, in der sich der Syrer erhängt habe, würden diejenigen Insassen eingeschlossen, die als akut gefährdet gelten würden. „Der Raum ist vollkommen leer, keine Möbel, und die Gefangenen müssen sich nackt ausziehen. Sie haben nur eine Art Papierunterhose an, mit der sie sich nichts antun können“, erklärt er. Stattdessen sei al-Bakr in den sogenannten „Vandalen-Haftraum“, in den randalierende Insassen gebracht werden, gesperrt worden. „Da ist noch ein zusätzliches Gitter, etwa einen Meter hinter der massiven Schließtür, eingezogen worden. An diesem Gitter hat sich al-Bakr aufgehängt“, erklärt.
Tommy spricht von einem massiven Personalmangel in den sächsischen Gefängnissen, der solche Vorfälle wahrscheinlicher machen würde. „In Leipzig müssen Sportangebote für die Gefangenen abgesagt werden, wenn nur ein einziger Gefangener ins Krankenhaus gebracht werden muss. Dann ist nicht mehr gewährleistet, dass genügend Beamte die Sportveranstaltung überwachen können.“
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) fordert eine schnelle Aufklärung der Vorgänge. Politiker von SPD, Linken und Grünen äußern Empörung und Unverständnis. Auch der Pflichtverteidiger des Syrers macht der sächsischen Justiz schwere Vorwürfe: „Man hätte Vorkehrungen treffen müssen, um das zu verhindern“, sagt Alexander Hübner. Er habe noch am Nachmittag die JVA-Leitung vor einem möglichen Selbstmordversuch seines Mandanten gewarnt.
Wenige Stunden später war al-Bakr tot.
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Die Psychologin leidet doch selber unter einer “ Schweren Persönlichkeitsstörung,ist zwar nicht heilbar jedoch therapierbar “
Psychologie heißt: “ Erkenne Dich selber dann erst erkennst Du Deine Mitmenschen “
Sie war Justizkonform in der Tat…
Jürgen