Gespräch mit Klaus Jünschke. Über Isolationsfolter, einen Klassenkampf, den die Linke nicht erkennt, und nötige Veränderungen in Willkommensinitiativen.
Sie waren wegen Ihrer Mitgliedschaft in der RAF von 1972 bis 1988 in Haft und sind seit 1995 immer wieder vom Rat der Stadt Köln in den Gefängnisbeirat gewählt worden. Wie haben Sie Ihre Haftzeit wahrgenommen, und wie hat sich dies auf Ihr politisches Engagement ausgewirkt?
Ich war die ersten sieben Jahre in Isolationshaft. Im Justizjargon heißt das »strenge Einzelhaft«. Wir haben das damals als Folter skandalisiert und uns mit Hungerstreiks dagegen gewehrt. Heute wird kaum noch abgestritten, dass es Isolationshaft gibt und dass sie menschenunwürdig ist. Nach meiner Entlassung habe ich mit Hilfe von Büchern, Zeitungsartikeln, Vorträgen und Interviews darüber aufgeklärt. Als mich die Kölner Grünen 1995 fragten, ob ich für sie in den Gefängnisbeirat gehen würde, habe ich zugesagt – ohne Mitglied der Partei zu werden. Es gibt immer wieder die Möglichkeit, einzelnen Gefangenen zu helfen, auch solchen in Isolationshaft. Bei einer Gefangenen, die streng abgeschottet wurde, weil man sie verdächtigte, die türkische DHKP-C unterstützt zu haben, hat sich sogar der Anstaltsleiter an die Bundesanwaltschaft gewandt und das Ende der Isolationshaft gefordert. In den 70er Jahren wäre das undenkbar gewesen.
In den deutschen Knästen gibt es viele Probleme. Der Resozialisierungsgedanke spielt kaum mehr eine Rolle …
SPD, Grüne und Die Linke sind bei jeder Demo gegen die AfD dabei, aber sie wollen nicht kapieren, dass »Law and Order« genauso ein Kernelement des Neofaschismus ist wie Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Nationalismus und Militarismus. Ein Ergebnis dieser Ignoranz: Zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler der genannten Parteien sind für die Abschiebung von straffällig gewordenen Ausländern. Dass Kriminalität eine Zuschreibung ist, wissen sie nicht, für sie ist Kriminalität eine Ausländereigenschaft. Die Parteien gehen da nicht dran, weil sie Schiss haben, ihre desorientierte Wählerschaft bestraft sie bei den nächsten Wahlen. Oder sie machen selbst einen »Law and Order«-Wahlkampf, wie Gerhard Schröder, SPD, 1998 oder jetzt in diesem Wahljahr, wo alle sich mit Forderungen nach mehr Abschiebungen übertrumpfen.
Gefangene haben keine starke Lobby, obwohl die Kritik am Gefängnis so alt ist wie das Gefängnis selbst. Strafvollzug ist Ländersache, und die Landesregierungen geben Geld für die irrsinnigsten Sicherheitsmaßnahmen aus, aber sie hören nicht auf den Rat derjenigen, die wissen, was das Zellengefängnis anrichtet. Es werden viel zu große Gefängnisse gebaut. Das Zellensystem wird nicht angetastet. Es wird zu wenig Personal eingestellt und zu schlecht bezahlt. Trotzdem finden sich unter denen, die im Gefängnis arbeiten, immer noch erstaunlich viele, die für einen menschenwürdigen Behandlungsvollzug eintreten.
Wieso ist Kriminalität eine Zuschreibung?
Bestimmte Handlungen können kriminalisiert und Straftatbestände können entkriminalisiert werden. Wenn sich Jugendliche prügeln, können Nachbarn, ihre Eltern und andere Jugendliche aus ihrem Freundeskreis mit ihnen reden und den Konflikt schlichten, der zur Schlägerei führte. Es kann aber auch dazu kommen, dass jemand die Polizei ruft, die dann eine Anzeige wegen Körperverletzung aufnimmt. Aus einem Ärgernis unter Jugendlichen ist damit eine Straftat geworden, die in der polizeilichen Kriminalstatistik erscheinen wird und vielleicht zu einem Artikel in der Lokalpresse über Jugendgewalt führt und unter Umständen zu einer Gerichtsverhandlung.
Ein Beispiel für Entkriminalisierung ist der Paragraph 175 des Strafgesetzbuchs, der 1994 gestrichen wurde. Als das Reichsstrafgesetzbuch 1872 in Kraft trat, wurden mit diesem Paragraphen sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe gestellt.
Und was meinen Sie mit »Zellensystem«?
Hinter den Mauern sind die Gefangenen in Zellen untergebracht, nicht in Zimmern. Eine Zimmertür hat innen und außen eine Klinke, eine Zellentür nicht. Die Standardzelle ist seit mehr als 150 Jahren acht Quadratmeter groß: zwei Meter breit, vier Meter lang. Wer in einem der alten Knäste sitzt, befindet sich in einem Raum, der alle möglichen Staatsformen überlebt hat: Kaiserzeit, Weimarer Republik, Faschismus.
In der Kindergartenpädagogik und in der Schulpädagogik wird heute vom Raum als drittem Erzieher oder Lehrer gesprochen – nach dem Klassenlehrer als erstem und den Mitschülern als zweitem Lehrer. Entsprechend wichtig wird die Gestaltung der Räume für Kinder und Jugendliche genommen. Im Gefängnis wird bis heute nicht gefragt, was der Raum Zelle lehrt. Diese ungleiche Sozialbeziehung, für die die Zelle steht, konterkariert jedes vernünftige Behandlungsangebot. Die Diskussion um die Käfighaltung von Hühnern ist um Jahre weiter. Als 2006 der sogenannte Foltermord im Jugendgefängnis Siegburg bekannt wurde, hat die damalige Landesjustizministerin jedem Gefangenen eine Einzelzelle zum Schutz vor Übergriffen versprochen – ohne ein Gespür dafür, dass die Zelle selbst ein Übergriff ist. Und um alles noch schlimmer zu machen, wurden Jugendgefängnisse mit mehr als 500 Zellen gebaut. In Sammelunterkünften solcher Größe bilden sich automatisch Subkulturen, in denen das Recht des Stärkeren gilt. Gefangene haben mich immer wieder gefragt, wie man nur die Idee haben kann, so viele von ihnen an einem Platz zusammenzubringen.
Nun werden trotzdem viele Menschen einwenden, dass Verbrecher bestraft werden müssten.
Die meisten Opfer von Straftaten wollen, dass der angerichtete Schaden so weit wie möglich wiedergutgemacht wird und dass das, was ihnen widerfahren ist, anderen nicht auch noch passiert. Mit dem dafür entwickelten Täter-Opfer-Ausgleich könnten viel mehr Delikte bearbeitet und Haft vermieden werden. In der Öffentlichkeit wird das kaum vermittelt. Für die Medien gilt »Sex and crime sells«.
Sie machen sich für eine Welt ohne Knäste stark. Wie stellen Sie sich das vor?
Es gibt Menschen, deren Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden muss, weil sie für sich oder andere eine Gefahr sind. Aber das sollte in Häusern mit Zimmern geschehen, in Räumen, deren Türen innen eine Klinke haben, die sie folglich verlassen können, wenn sie in Angstzustände geraten. Und sie sollten vor der Zimmertür immer jemanden treffen, mit dem sie sprechen können.
Schon in der Weimarer Republik gab es mit Gustav Radbruch einen Justizminister, der nicht für bessere Gefängnisse, sondern für etwas Besseres als das Gefängnis warb. In der Reformdiskussion um den Strafvollzug in der Bundesrepublik war das vorgesehen: Zimmer statt Zellen, ein offener Vollzug ohne Mauern sollte Regelvollzug werden. Heute sind bundesweit keine zehn Prozent aller Gefangenen im offenen Vollzug. Dabei macht zum Beispiel der ehemalige Gefängnischef Thomas Galli in seinen Veröffentlichungen sehr plausibel, warum die Gesellschaft sicherer wäre, wenn man 90 Prozent aller Gefangenen freilassen würde.
Wer wird weggesperrt?
In den 200 deutschen Gefängnissen sind rund 63.000 Jugendliche und Erwachsene inhaftiert. Vor zehn Jahren waren es noch 72.000. Mehr als 95 Prozent sind männlich. Sie kommen überwiegend aus armen Familien, haben in der Kindheit Gewalt erfahren, haben mehrheitlich keinen Schulabschluss, kaum eine Berufsausbildung, waren zur Tatzeit meistens arbeitslos und über 50 Prozent von ihnen sind suchtkrank. Auch Ausländer mit schwachem Aufenthaltstitel sind in den Haftanstalten überrepräsentiert.
Damit liegt auf der Hand, dass nicht nur Gefangene ihr Verhalten ändern müssen, sondern dass auch in der Gesellschaft etwas verändert werden muss.
Seit mehr als 100 Jahren geistert der Satz von Franz von Liszt durch die Gefängnisdebatten: »Eine gute Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik.« Er ist in der Politik noch nicht angekommen. In einem Hochsicherheitsgefängnis wie in Köln-Ossendorf sitzen zehn Prozent aller Gefangenen nur, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen können. Darunter sind immer mehr Rentner. Und jeder ihrer Hafttage kostet 135 Euro.
Noch dramatischer ist die Geschlechterblindheit. In jedem kriminologischen Lexikon gibt es die Kapitel Ausländerkriminalität, Jugendkriminalität, Frauenkriminalität, seit neuestem auch Seniorenkriminalität, aber keine Abhandlung über Männerkriminalität. Es ist nicht nur das Patriarchat, das älter ist als der Kapitalismus, als Polizei, Justiz und Gefängnis. Seit es Herrschaft gibt, gibt es einen Bedarf an Sündenböcken. Der Münsteraner Soziologe Christian Sigrist hat zur Entstehung von Herrschaft geforscht. Ein Ergebnis: »Allgemein lässt sich die Entstehung von Paria-Gruppen als Ergebnis von Herrschaftsbildung und wachsender ökonomischer Ungleichheit erklären. Die religiöse Überhöhung von Herrschaftsinstanzen findet ihren Gegenpart in der Dämonisierung von Randgruppen.«
Auch die Substitution von Drogenkonsumenten ist mangelhaft, Spritzbesteck und Kondome werden nur höchst selten zur Verfügung gestellt. Welche Auswirkungen hat dies für Gefangene?
Von Bundesland zu Bundesland wird das sehr unterschiedlich gehandhabt. In der JVA Köln können fast alle Süchtigen mit Methadon substituiert werden. In Bayern ist das selten. Europaweit wird die Vergabe von Einwegspritzen und sogar Heroin in spanischen Gefängnissen von der AIDS-Hilfe sehr gelobt. In Köln hatten wir mit Jörn Foegen einen Anstaltsleiter, der immer wieder öffentlich erklärt hat, dass er ein Drittel aller Zellen dicht machen könnte, wenn es in Deutschland eine an Leidverminderung orientierte Drogenpolitik gäbe. Er war für die Abgabe von Heroin an die Süchtigen. Die Politik hat nicht auf ihn gehört, und so ist der Alltag in den Gefängnissen mit diesem hohen Anteil an Drogenabhängigen bis heute davon geprägt. Es herrscht ein dummer Kleinkrieg zwischen Gefangenen und ihren Bewacherinnen und Bewachern.
Ein weiteres Problem ist, dass Gefangene trotz ihrer Arbeit im Knast dafür keine Rentenleistungen erhalten. Sehen Sie Chancen, dies in naher Zukunft zu ändern?
Für den Mindestlohn auch in den Gefängnissen und die Einführung der Sozialversicherung engagieren sich nicht nur Bürgerrechtsorganisationen wie das Komitee für Grundrechte und Demokratie. Seit mehr als einem Jahr gibt es eine Gefangenengewerkschaft, in der sich inzwischen mehr als 1.000 Inhaftierte organisieren. Diese Initiativen können eine Chance bekommen, wenn sich in der Bevölkerung die Erkenntnis durchsetzt, dass es vernünftiger ist, soziale Konflikte sozial zu lösen, statt mit immer mehr Repression, Überwachung und Kontrolle zu reagieren.
Sie leben in Köln und engagieren sich mittlerweile seit Jahrzehnten in der Flüchtlingsarbeit und gegen Rassismus. Wie ist aktuell die Stimmung in der Domstadt, wenn es um das Thema Flucht und Migration geht?
Die Bereitschaft, Flüchtlingen zu helfen, ist ungebrochen. In allen Stadtteilen gibt es Willkommensinitiativen. Gerade haben Hunderte Schüler eines Gymnasiums mit ihren Eltern vor dem Rathaus gegen die Abschiebung von zwei Klassenkameraden nach Albanien demonstriert. Viele Helferinnen und Helfer sind wegen der Abschiebungen von der Stadtverwaltung enttäuscht, auch weil immer noch Tausende Flüchtlinge in Hallen untergebracht werden. Eine wachsende Zahl von Initiativen ruft zum Widerstand gegen den Bundesparteitag der AfD auf, der im April im Hotel Maritim hier in Köln stattfinden soll.
Ist das nicht prima – eine ganze Stadt gegen die AfD?
Bei den Kommunalwahlen 2014 haben die rechten Parteien AfD, NPD und Pro Köln zusammen etwas mehr als sechs Prozent der abgegebenen Stimmen bekommen. Die Hälfte der Wahlberechtigten blieb zu Hause. Zur Wahl der Oberbürgermeisterin Henriette Reker kamen 2015 nur 40,3 Prozent der Abstimmungsberechtigten. In den vergangenen Jahren ist auch die Schere zwischen Arm und Reich in Köln weiter auseinander gegangen. Mehr als 25 Prozent aller Kölner sind arm. Aber es gibt dort keine vergleichbare Mobilisierung gegen die Verarmung, ihre Verursacher und ihre Nutznießer, wie gegen rechts. Obwohl mit Christoph Butterwegge Deutschlands bekanntester Armutsforscher seit Jahren hier in Köln die wachsende Armut skandalisiert. Die AfD hat die Armut nicht verursacht, sie profitiert nur davon, dass sich arme Deutsche und arme Zuwanderer als Konkurrenten gegenüberstehen, weil es keine gesamtgesellschaftliche Bewegung zur Überwindung der sozialen Ungleichheit gibt. Es ist grotesk: Milliardäre wie Warren Buffett erklären öffentlich, dass es einen Klassenkrieg gibt und es die Klasse der Reichen ist, die diesen Krieg gewinnen wird, und auf der Seite der Linken wird sich um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft gesorgt.
Die sexualisierten Übergriffe auf Frauen, zu denen es in der Silvesternacht 2015 zu 2016 kam und die mehrheitlich von Nichtdeutschen begangen worden seien sollen, wirken aber bis heute politisch nach. Neonazis und Rassisten haben die damaligen Ereignisse für ihre Propaganda missbraucht. Wurde der Umgang mit Flüchtlingen dadurch beeinflusst?
Die Dramatisierung und Instrumentalisierung der Silvesternacht hat Walter van Rossum sensibel analysiert. Die Solidarität mit Flüchtlingen wurde nicht gekippt. Da Frauen in dieser Nacht Opfer von Übergriffen waren, ist es viel wichtiger, sich zu fragen, was in Köln zum Schutz von Frauen seither geschehen ist. Die beiden Frauenhäuser müssen täglich Schutzsuchende abweisen. Ihre Forderung nach einem dritten barrierefreien Frauenhaus für Köln ist bis heute nicht erfüllt. Die Kölner Gefängnisleitung fordert seit fünf Jahren von der Landesregierung, eine sozialtherapeutische Abteilung für die weiblichen Jugendlichen zu schaffen, ohne dass es bis heute dafür eine Finanzierung gibt, obwohl im Jugendstrafvollzugsgesetz solche Einrichtungen vorgeschrieben sind.
Es scheint, als wäre es kaum möglich, mit Teilen der Bevölkerung sachlich über Flüchtlinge und das Thema Asyl zu diskutieren.
Schon als die damals noch Fremdarbeiter genannten Arbeitsmigranten Mitte der 50er Jahre angeworben wurden, hat man sie nicht öffentlich als Problemlöser gewürdigt. Von ihnen war immer nur als »Ausländerproblem« die Rede. Zwei Drittel der Berichte in den Medien über Ausländer in den 60er Jahren waren Berichte über Straftaten. Selbst im damals noch linksliberalen Magazin Der Spiegel konnten 1972 solche Sätze gelesen werden wie: Dass Südländer häufiger töten als Nordländer, haben schon Untersuchungen aus den Jahren 1922 bis 1926 ergeben. Die vielgerühmte Vergangenheitsbewältigung dient hauptsächlich legitimatorischen Zwecken. Die Banken und Unternehmen, die Hitler und die NSDAP unterstützt haben, wurden bekanntlich 1945 nicht enteignet. Dass Rheinmetall erlaubt wurde, in der Türkei und in Algerien Panzerfabriken zu bauen, ist kein Thema in Deutschland.
Der deutsche Pass erlaubt Reisen in fast alle Länder der Welt – in der anderen Richtung ist das nicht der Fall. Mit der Einführung der Visapflicht für afrikanische Länder haben die europäischen Regierungen zu verantworten, dass Flüchtlinge zu Tausenden im Mittelmeer ertrunken sind und weiter ertrinken. Sie stellen sich dieser Verantwortung nicht schieben die Schuld den Fluchthelfern zu. Die gnadenlose Abwehr der Flüchtlinge durch die Regierungen findet sich im blinden Hass der Rechten wieder. Es kommt darauf an, dass aus der Wohltätigkeit der Willkommensinitiativen politisches Handeln zur Überwindung der Fluchtursachen und zur Überwindung der Armut hier wird.
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