Justizvollzug in Sachsen – Wenn Verständigung nicht möglich ist

  • Seit Anfang 2015 haben sich in sächsischen Gefängnissen neun Häftlinge selbst getötet, vier von ihnen waren Flüchtlinge.
  • Experten kritisieren, dass Gefängnisinsassen ohne Deutschkenntnisse Angebote zur Suizidprävention oft nicht wahrnehmen können, da es an Sprach- und Kulturmittlern mangelt.
  • Insgesamt fehlt es in Sachsen, wie auch in vielen anderen Bundesländern, an Personal im Justizvollzug.
Von Anna Fischhaber und Felicitas Kock

Dschaber al-Bakr ist tot. Der kurzzeitig wohl wichtigste Gefangene Deutschlands hat sich in seiner Zelle in der JVA Leipzig stranguliert. In der Obhut der Behörden. Die Frage, wer wie viel Schuld an diesem Tod trägt, muss nun eine eingehende Untersuchung klären. Einige Fragen kann man schon jetzt beantworten: Etwa die, wie Justizvollzugsanstalten in Sachsen mit ihren Häftlingen umgehen. Insbesondere mit jenen, die kein Deutsch sprechen und möglicherweise suizidgefährdet sind.

Zunächst hat Sachsen, wie fast alle deutschen Bundesländer, mit einem erheblichen Personalmangel im Justizvollzug zu kämpfen. Das Problem ist altbekannt, lange wurde nichts unternommen. „Im gesamten sächsischen Justizvollzug ist das Personal überaltert und es stehen zu wenig Beamte zur Verfügung, um sämtlichen Anforderungen gerecht zu werden“, sagt der Leipziger Strafverteidiger Curt-Matthias Engel.

Sachsen, ein Trauerspiel

Es ist schäbig, wie sich die Verantwortlichen nach dem Suizid von Dschaber al-Bakr herausreden wollen. Der Fall gehört vor einen Untersuchungsausschuss. Kommentar von Heribert Prantl mehr …

In der JVA Leipzig arbeiten 207 Mitarbeiter, unter ihnen sechs Psychologen. Aktuell fehlen der Leipziger Volkszeitung zufolge etwa 15 Wärter. Klaus Bartl stellt dem Gefängnis an sich ein gutes Zeugnis aus. Im Vergleich zu anderen sächsischen JVAs laufe das Vollzugssystem hier vorbildlich. Oder besser: „Es würde vorbildlich laufen, wenn es denn ausreichend Mitarbeiter gäbe, um die guten Ideen umzusetzen.“ Erst im August war Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich gemeinsam mit seinem Justizminister in der Leipziger JVA zu Besuch, um sich ein Bild zu machen.

Doch nicht nur das reguläre Personal fehlt. Auch Dolmetscher gibt es viel zu wenige. Insgesamt beträgt der Anteil der Häftlinge mit Migrationshintergrund in Sachsen zwischen 20 und 25 Prozent. Größtenteils handle es sich um Tschechen und Polen, die wegen Eigentumsdelikten einsäßen, sagt Bartle. Doch mit der Zahl der Flüchtlinge im Land steige auch die Zahl der Flüchtlinge in den Haftanstalten. Und auf diese seien die JVAs nicht vorbereitet. In Leipzig waren zuletzt zwischen 450 und 500 Gefangene aus mehr als 30 Ländern untergebracht, die meisten von ihnen in Untersuchungshaft.

Al-Bakr sah erst spät einen Dolmetscher

Besonders schwerwiegend sind die Auswirkungen bei möglicherweise suizidgefährdeten Häftlingen. „Kommunikation ist das Wesentliche bei der Verhinderung von Suiziden“, sagte der Leiter der JVA Leipzig, Rolf Jacob, bei der Pressekonferenz zum Tod Dschaber al-Bakrs. Doch was, wenn aufgrund fehlender Sprachkenntnisse und Sprachmittler eine Verständigung kaum möglich ist?

Jacob beteuerte zwar, dass Personalmangel im Fall al-Bakr keine Rolle gespielt habe. Gleichzeitig beklagte er, dass der JVA nicht jederzeit ein Dolmetscher zur Verfügung stehe. Dem 22-jährigen al-Bakr wurde trotz erheblicher Verständigungsprobleme erst spät ein Übersetzer zur Seite gestellt (hier mehr zum Ablauf von Al-Bakrs Gefängnisaufenthalt).

Sprachbarriere verhindert Suizidprävention

Das Thema Suizidprävention ist im Justizvollzug so wichtig, weil die Gefahr einer Selbsttötung im Gefängnis deutlich höher ist als in Freiheit – insbesondere bei Menschen, die erstmals in Untersuchungshaft sitzen. „Eigentlich ist jeder Untersuchungshäftling potentiell suizidgefährdet“, sagt der Jurist Thomas Galli, der lange als Gefängnisdirektor in Sachsen gearbeitet hat. „Aber sie können natürlich nicht jeden in eine Gummizelle stecken und dauerhaft überwachen.“ Seit Anfang 2015 haben sich in sächsischen Gefängnissen neun Häftlinge selbst getötet, vier von ihnen waren Flüchtlinge.

Das Konzept zur Suizidprävention werde in Sachsen sehr ernst genommen, sagt Galli. Es sieht vor, dass bei jeder Aufnahme in den Justizvollzug und bei „kritischen Ereignissen im Haftverlauf“ entsprechend fortgebildete Mitarbeiter ein sogenanntes Screeningverfahren durchführen. Dieses beinhaltet ein ausführliches Gespräch mit dem Häftling sowie die eingehende Durchsicht seiner Akte.

Abhängig vom Ergebnis werden Maßnahmen ergriffen – von einfachen Gesprächsangeboten bis hin zur intensiven Betreuung und psycho-pharmakologischen Behandlung. Außerdem werden die Beamten in den Vollzugsanstalten jährlich im Umgang mit gefährdeten Häftlingen geschult.

„Man darf nicht das Routineprogramm abspulen“

Die Suizidprävention richtet sich an alle Gefängnisinsassen, egal welcher Herkunft. Doch für Häftlinge, die kein Deutsch können, ist es ohne Dolmetscher so gut wie unmöglich, die Angebote wahrzunehmen. Ein Umstand, den auch die Gefangenengewerkschaft GGBO kritisiert. Es fehle nicht nur an Sprachmittlern, sondern auch an entsprechend ausgebildeten Sozialarbeitern, die als Kulturmittler zwischen Häftlingen und Bediensteten vermitteln, heißt es von dort. Die gesamte Resozialisierung komme zu kurz, sobald es eine Sprachbarriere gebe. Die Gefangenengewerkschaft spricht von einem bloßen „Verwahrvollzug“.

Dass Dschaber al-Bakr nicht vollumfänglich betreut und kontrolliert wurde, erklärt die JVA Leipzig damit, dass er nicht als akut suizidgefährdet eingestuft wurde. Ein Beurteilung, die jedoch manche verwundert. „Al-Bakr wollte möglicherweise ein Selbstmordattentat begehen – einen stärkeren Hinweis auf Suizidgefahr gibt es doch kaum“, sagt Strafvollzugsexperte Bernd Maelicke dazu.

Mit solchen gefährdeten Gefangenen gelte es, im Gespräch zu bleiben – mit Hilfe von Seelsorgern und Sozialarbeitern. „Wenn ein Gefangener nicht gut Deutsch spricht, braucht man dafür natürlich einen Dolmetscher, den es hier offenbar nach Dienstschluss nicht gab. Aber wenn ein mutmaßlicher Selbstmordattentäter eingeliefert wird, darf man eben nicht das Routineprogramm abspulen“, so Maelicke.

Zumal, wenn noch nicht einmal das Routineprogramm besonders zufriedenstellend ist.

Quelle: http://www.sueddeutsche.de/panorama/justizvollzug-in-sachsen-wenn-verstaendigung-nicht-moeglich-ist-1.3204940

 

Die von den einzelnen AutorInnen veröffentlichten Beiträge geben nicht die Meinung der gesamten GG/BO und ihrer Soligruppen wieder. Die GG/BO und ihre Soligruppen machen sich die Ansichten der AutorInnen nur insoweit zu eigen oder teilen diese, als dies ausdrücklich bei dem jeweiligen Text kenntlich gemacht ist.

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.